22.10.2009

Ein ganzer Rundbrief.
 

Ich liege hier auf meiner Mauer im Garten und blicke in die sternklare Nacht. Der Himmel ist so offen…so weit. Er breitet sich wie ein Zelt über mich. Der Polarstern strahlt hell, die Milchstrasse zieht sich durch den Himmel.
In solchen Momenten verspüre ich ein ganz eigenes, mich immer wieder überraschendes Gefühl. Ich will es einmal als Glücksgefühl bezeichnen. Dann wird mir klar, dass ich schon fast drei Monate hier bin. Das kann positive oder negative Wirkungen auf mein Gefühlsleben haben…aber zumeist und zunehmend sind es positive. Wenn es mir nicht gut geht, lege ich mich dorthin und auch wenn ich guter Laune bin, geniesse ich den Blick in den endlosen Himmel.

Das Leben ist schön…

Mittlerweile ist die Regenzeit so richtig angekommen, der Wind bläst, sodas die Blätter der zahlreichen Bananenbäume nur so rascheln, dass es mich manchmal an das Meer erinnert. Oft sitze ich dabei auf der Treppe hinter meinem Zimmer, mit Blick Richtung Dorf und die Berge. Ich beobachte die sich auftürmenden Wolken, wie sie grau und schwer in den Bergen hängen. Geniesse den Wind um die Ohren. Was habe ich nicht schon alles erlebt, gesehen, gespürt…in so kurzer Zeit. Seit meinem letzten halben Rundbrief ist so viel geschehen, die Zeit selbst vergeht so schnell!

Was ist Zeit? Diese Frage stelle ich mir hier so oft. Die Menschen haben hier ein ganz anderes Zeitgefühl als bei uns in Europa. Drei Stunden Gottesdienst sind völlig normal. Das zweistündige Warten auf den Bus. Die dreistündige Busfahrt. Das ist normal. Mit der deutschen Tugend der Pünktlichkeit kommt man hier nicht weit- und das ist auch gut so. Klar, manchmal ist es schon nervig, wenn man gesagt bekommt, dass um fünfzehn Uhr Abfahrt ist und man um siebzehn Uhr noch nicht losgefahren ist. Aber ich gewöhne mich daran und schlimm finde ich es auch nicht, oft ist es auch ganz angenehm, nicht dem Stress zu verfallen und einfach Zeit zu haben… Bin ich eigentlich angekommen? Was ist das eigentlich? Auf jeden Fall ist der Alltag bei mir angekommen und das ist auch gut so- auch wenn es teilweise echt hart ist, morgens aus dem Bett zu kommen, sich aufzuraffen und zur Arbeit zu gehen. Die letzten Tage hat es pausenlos durchgeregnet…

Neben meiner Tätigkeit im Nähzentrum bin ich jetzt seit knapp zwei Monaten auch im Aidszentrum. Das Zentrum liegt ein wenig ausserhalb des Dorfes, etwas abseits der Strasse. Es besteht aus zwei hintereinander liegenden Häusern, wobei sich in dem einen die Verwaltungsräume (heisst Büro und Küche) befinden und in dem anderen die Schlafräume. Im Moment schlafen männliche und weibliche Kinder und Erwachsene noch jeweils in einem Raum, aber ein eigenes Haus für die Kinder befindet sich gerade im Bau. Die Räume sind nur spärlich mit dem Nötigsten ausgestattet und das ganze Hab und Gut der Kinder besteht aus einem Kartenspiel, das sie wie ein Augapfel hüten. Auf dem Gelände gibt auch einen kleinen Stall mit Kühen (inka) und zwei Ziegen (ihene)- die Hühner laufen überall herum und auch die Kühe gehen oft gemächlich an dir vorbei, wenn du gerade im Haus sitzt- ich erschrecke mich immer wieder, wenn plötzlich eine Kuh neben mir steht.

Bevor ich zum ersten Mal dorthin ging, war ich sehr nervös und hatte ein wenig Angst davor, was mich dort erwarten würde. Aber ich merkte bald, dass ich mich zu sehr hineingesteigert hatte. Neben den ca. 15 Kindern zwischen sechs und 18 Jahren, die dort ständig wohnen, weil sie keinerlei Angehörige mehr haben, leben dort noch die sogenannten Animateure, Betreuer, die sich rund um die Uhr um die Kinder kümmern und sich den Dienst untereinander aufteilen. Geleitet wird das Zentrum von einer Schwester, Margarete, die nicht immer da ist. An meinem ersten Tag ging ich mit den Kindern auf das naheliegende Feld, wo ich auch immer dienstags und donnerstags mit den Lehrern Fussball spiele. Wir lernten uns kennen, indem wir einfach ein wenig Ball spielten. An diesem Tag merkte ich schon, dass das wirklich am Besten durch Spielen funktioniert.

Zunächst aber machte ich mir dort etwas Anderes zur Aufgabe: Ein Teil der Kinder geht morgens zur Schule und der andere Teil nachmittags. Ich sollte mit den Kindern Hausaufgaben machen und ihnen in anderen schulischen Dingen helfen- vor allem aber sollte ich mit ihnen Englisch lernen. Also dachte ich, wiederhole doch einfach erst einmal da ABC auf Englisch mit ihnen. Das war leichter gedacht als getan. Schon ganz am Anfang merkte ich, dass die Kinder kaum fähig waren, das ABC in ihrer Muttersprache aufzusagen- sie kamen meist nur bis F. Ich war ganz schön geschockt aber gleichzeitg auch motiviert, ihnen das ABC beizubringen- sowohl es zu schreiben als auch zu lesen. Ich fing an und es funktionierte auch ganz gut. Nach ein paar Stunden ist mir mehr und mehr aufgefallen, welch grosse Unterschiede zwischen den Kindern bestehen.- bezüglich der Aufnahmefähgikeit, des Bildungsstandes und ganz besonders des Krankheitsbildes. Es gab einige Kinder, die unglaublich schnelle Fortschritte machten und andere, die zum gleichen Zeitpunkt noch immer nicht das F schreiben konnten. Auch die Konzentration nahm immer mehr ab. Daher habe ich an einem Tag einfach das Kartenspiel *UNO* mitgebracht, was den Kindern auch grossen Spass bereitet hat. Nachdem mir nach einigen Malen der Lautstärkepegel zu hoch wurde und ich das Zentrum nur noch genervt verliess, ging ich dazu über, mit ihnen Fussball zu spielen. Das ist für die Kinder wirklich das Grösste. Sie haben so viel aufgestaute Energie, dass sie wie die Verrückten auf dem Platz umher laufen. Ich freue mich jedesfalls darüber, mit welchem Spass sie Fussball spielen und nebenbei kann ich meine Fähigkeiten ebenfalls vebessern. Oft sind wir nach einer Stunde spielen total platt- denn meist prallt die Sonne auf das Feld.

Im Moment macht es den Kindern einfach nur Spass, die ganze Zeit Fussball zu spielen. Für mich kann ich mir das in einem Zeitraum von einem Jahr natürlich nicht vorstellen, auch wenn ich so gut es geht versuche, mich zu motivieren. Ich bin dabei, mir andere Möglichkeiten der Beschäftigung für die Kinder zu suchen und es läuft auch gut- morgen werde ich zum Beispiel mit dem riesigen Schwungtuch der Schule dorthin gehen. Für die nächste Zeit werde ich auch Buntstifte, Papier etc besorgen.

Und das Fussballspielen bleibt natürlich nach wie vor…

Im Nähzentrum läuft es auch sehr gut- gerade habe ich meinen ersten Rock geschneidert, mit meinem eigens dafür gekauften Stoff. Er ist nur leider ein wenig gross geraten…Trotzdem bin ich schon ein wenig stolz auf mich, dass ich das so gut hinbekommen habe. Nächste Woche werde ich mit einer passenden Bluse dazu beginnen. Vorher habe ich drei Kleider für Kleinkinder geschneidert…

Jeden Mittwoch gebe ich den Mädchen eineinhalb Stunden Englischunterricht. Dachte ich zunächst , dass das ja nicht allzu schwer sein kann, bemerkte ich schon bald, dass ich mich doch ein wenig geeirrt hatte…Die Bildungsunterschiede zwischen den ca. 25 Mädchen sind enorm, mittlerweile kann ich sie jedoch gut einschätzen. Der Grossteil hat nicht einmal die primaryschool beendet und weist daher grosse Lücken in Aufnahmefähigkeit und Orthographie auf. Vor ein paar Wochen habe ich zum ersten Mal einen Test mit ihnen geschrieben, in der Erwartung, dass dieser nach der bestimmt dreimaligen Wiederholung des Themas schon gut laufen würde (*ibiryo- food*)- auch meine Fragen waren wirklich einfach. Dachte ich zumindest…Leider haben nur sechst von 25 so richtig verstanden, was ich von ihnen wollte. Da war ich zunächst niedergeschlagen und ein wenig demotiviert. Bald habe ich jedoch gemerkt, dass ich ganz klein anfangen muss - die letzten Stunden habe ich mit ihnen das ABC auf Englisch wiederholt und sie ihre Namen buchstabieren lassen - das führte zu einigen Lachern, weil die ruandischen Namen wirklich schwer zu schreiben und zu sprechen sind…

An eine der letzten Stunden erinnere ich mich ganz genau - ich hatte gerade den Unterricht beendet, als die Mädchen mich aufforderten, doch etwas zu singen. Ich war verschüchtert, weil ich mich vor ihnen ein wenig wie auf dem Präsentierteller gefühlt habe…und weil ich einfach nicht singen kann (ausser vielleicht bei voller Lautstärke beim Wäschewaschen)…als es dann ums Tanzen ging sagte ich nach nur kurzem Zögern- *sawa- ariko hamwe!* (in etwa: ok, aber zusammen!) Es wurde richtig lustig, ein Mädchen schlug die Trommel, die anderen zeigten mir, wie es ging- und es funktionierte gut! Klar, die Lacher waren auf meiner Seite aber es hat wirklich Spass gemacht! Daran merke ich, dass ich mit den Mädchen immer besser klar komme, trotz Sprachbarriere. Ich mache zwar Fortschritte im Kinyarwanda, aber es reicht immer noch nicht für eine richtige Konversation.

Auch das Nähzentrum ist nur mit dem Nötigsten ausgestattet, es fehlen einfach die finanziellen Mittel. So teilen sich die Mädchen mit zwanzig Personen sechs funktionierende Nähmaschinen und die Stoffe sind von eher unzureichender Qualität. Aber es geht ja ums Lernen und die Mädchen sind eifrig dabei, eine Hose zu nähen. Im Januar kommt eine neue Gruppe. Das Problem, was sich der leitenden Schwester im Moment stellt ist, dass diese nach einem Jahr Ausbildung noch weiter lernen möchte- steht ihnen sonst nur die Alternative zur Verfügung, den ganzen Tag zu Hause zu helfen oder zu heiraten…

In der letzten Zeit versuche ich ein wenig innovativer zu sein und habe einige Ideen, wie ich mich besser einbringen könnte. Auch mit der Problematik, im nächsten Jahr eventuell zwei Gruppen von Mädchem im Zentrum unterbringen zu wollen, setze ich mich auseinander und hoffe, der Schwester helfen zu können, eine Lösung zu finden.

So haben wir jetzt beschlossen, sogenannte *Talks* mit den Mädchen zu führen, wie zum Beispiel über ihre Zukunftspläne, wie ihnen der Englischunterricht gefällt oder Hygiene. Hinzu kommt, dass ich jetzt einmal die Woche mit ihnen einfach raus aus dem Zentrum gehen werde und Fussball u.a. spiele. Darauf freue ich mich schon und hoffe, dass ich die Mädchen so noch besser kennen lernen kann und sie Vertrauen zu mir fassen.

Was meine Aufgaben in der Zukunft angehen, so werde ich ab Januar vermutlich noch anfangen, ein bisschen was an der hiesigen secondary school, der Ecole Technique Paroissale de Nyarurema, zu machen und ab nächste Woche unterrichte ich die Krankenschwestern des Health Centers im Englischen. Bin schon gespannt, wie das so läuft, es ist ja doch etwas ganz Anderes, als Kinder zu unterrichten.

Mein Leben neben den Projektstellen…

…läuft immer noch gut oder noch bessser. Ich verstehe mich sehr gut mit den Lehrern, habe noch zwei nette Freiwillige in Nyagatare, der nächsten Stadt, kennen gelernt und vor allem mit Jen, der amerikanischen Freiwilligen finde ich so langsam eine Basis. Die Priester machen sich auch sehr gut- es ist immer wieder lustig, mit ihnen am Mittagstisch zu sitzen, da ich sie, für mich selbst, mit wunderbaren Spitznamen ausgestattet habe, die mich innerlich glucksen lassen.

Von einem besonders schönen Tag möchte ich an diesem Punkt berichten… Vor ein paar Wochen wurde ich von meinen zwei *Lieblingslehrern* und Jen zu einer Wanderung eingeladen….Wir sind über die ruandischen Hügel auf und ab und auf und ab gewandert bis wir schliesslich – es hatte schon angefangen zu regnen- an einem riesigen Baum ankamen, der ganz allein oben auf dem Hügel stand…Die Wolken hingen tief, tiefer als wir…und trotzdem konnten wir das ganze Tal, die ganzen nächsten Hügel überblicken…ein feiner Nieselregen legte sich auf unsere Haut…es war ein richtig schönes Gefühl, dort oben gemeinsam mit ihnen zu stehen.

Von dort aus konnten wir auch unser kleines Dörfchen sehen. Buguma- Town, so der Spitzname des Dorfkerns. Buguma erinnert mich immer an ein Dorf, ganz so wie es in den typischen Westernfilmen dargestellt wird: Eine Hauptstrasse mit flachen Häusschen, Säulen Holztüren und Vordächern- wo die Menschen sitzen und den Tag an sich vorbeiziehen sehen. Donnerstags ist Markttag und es wimmelt nur so von Ziegen, Bananen, Ananas und Avokados…Herrlich! Ich liebe es, über den Markt zu gehen, vor allem kennen mich viele Menschen mittlerweile schon und umso lieber kaufe ich dann eine frische, vor Saft triefende reife Ananas.

Ausserhalb meiner Arbeit habe ich auch ein trauriges Erlebnis gehabt. An einem Mittag sagte Salvain mir beim Mittagessen, dass sich ein Mädchen in meinem Nebenzimmer befindet. Ich war ganz verwundert, hatte ich davon noch nichts bemerkt, obschon die Wände hier unglaublich dünn sind. Er erzählte, dass er es hergebracht hatte, damit sie sich erholen konnte. Grund: Sie hatte seit drei Tagen nichts gegessen, nicht geschlafen und immer wieder Schreikrämpfe gehabt, bis dass sie ganz aufhörte zu sprechen. Ich sollte mich um sie kümmern und immer mal wieder nach ihr schauen, damit sie nicht allein das Zimmer verliess. Nachdem ich am späten Nachmittag zur Schule ging, weil ich dachte, dass sie schlief, war ich umso geschockter, als sie ganz aufgelöst in der Schule auftauchte. Jen und Siphoro, die *Mama* für alle Mädchen und ein unglaublich netter Mensch, brachten sie zurück zur Pfarrei. Dort blieben wir dann einfach bei ihr, damit sie ein Gefühl der Geborgenheit bekam. Ich wusste erst überhaupt nicht, wie ich mich verhalten sollte. Sie war in einem Delirium und tat mir total Leid, ich kam mir nutzlos vor weil ich einfach nichts für sie tun konnte.

Ich erfuhr dann auch, warum es ihr so schlecht ging. Sie wollte die ganze Zeit raus aus dem Zimmer, um ihre Mama suchen zu gehen - die 1994 ermordet wurde.

Zum ersten Mal habe ich einen Fall von Traumatisierung miterlebt und es war wirklich schockierend und absolute niederschmetternd. Man steht ohnmächtig da, weil man nicht nachempfinden kann, wie sich solche Menschen fühlen. Daher habe ich wieder einmal über das allgemeine Ruanda- Bild nachgedacht, über das ich hier so viel erfahre bzw mit meinen eigenen Erfahrungen in Deutschland zu vergleichen versuche. Viele Menschen im Westen stellen sich vor, dass es in Ruanda noch genauso ist wie 1994, genauso gewaltsam, genauso blutig; andere sind der Meinung, die Menschen haben den Völkermord *überwunden*.

Während das Eine die Unverwüstlichkeit und Entschlossenheit der Ruander abwertet und all das, was sie erreicht haben so verfehlt das Andere, Verständnis zu zeigen für die Grässlichkeiten, die passiert sind, die sich kein Aussenstehender vorstellen geschweige den nachempfinden kann. Deren Folgen dauern bis heute an und die Menschen werden grösstenteils ein Leben lang nicht darüber hinweg kommen- vor allem nicht in 15 Jahren. Der Weg zu Gerechtigkeit und Genesung ist lang, aber die Ruander scheinen sich für diese lange Reise zu wappnen und ihr entgegen zu treten.

Bei allen schönen und schrecklichen Erlebnisen, allem Auf und Ab, das es auch noch nach drei Monaten hier noch gibt, weiss ich immer noch nicht so richtig, was Geniessen ist. Bin ich angekommen oder nicht?

Das Leben ist schön…

Nebenbei liebe ich es, in meinen Traümereien zu versinken, wenn ich in meinem Zimmer oder auf langen Bus- oder Autofahrten bin…

…und zu lesen…Ich sitze mit den Freunden Dannys auf der Veranda in Tortilla Flat und geniesse ihr Leben, das jeden Tag gleich schön ist; ich steige mit Ray und Japhy das Matterhorn hinauf , entdecke das einfache Leben und versinke mit ihnen in der Liebe zur Natur; habe mit Tomas und Teresa alle Höhen und Tiefen der grossen Liebe durchlebt …und habe mit Walter Faber entdeckt, was wirklich wichtig ist im Leben.

…und dass das Leben immer neue Dinge mit sich bringt.

Wie Forrest Gump mit seiner berüchtigten Schokoladenbox: “You never know what you’re gonna get”

Das Leben ist schön…

Ich freue mich, von euch zu hören!
Liebe Grüsse aus Nyarurema
Teresa